Kathrin Köster

Die Tat der Falte

Zu Kathrin Kösters Arbeiten seit 2014

von Hanne Loreck

in: Kathrin Köster. ex plica, S. 7-17, argobooks, Berlin 2019

 

 

Kathrin Kösters jüngere Arbeiten konstellieren Recherchen, Malerei, einen konkreten (Ausstellungs-)Raum und oftmals Auf- oder Vorführungspraxen. Das heißt, mit malerischen Mitteln produziertes zweidimensionales visuelles Material, Raumanalysen, kunsthistorisches Bildwissen, Installations- und Display-Modi, Aktionen, ja Demonstrationen affizieren sich gegenseitig. Ausgehend von lat. demonstrare: vorzeigen, hinweisen involvieren die Werk-Elemente und Werk-Aspekte Raum und Zeit auf je spezifische Weise. Hinter lat. monstrare steht lat. monere, mahnen. Mahnen und Zeigen finden wir gleichsam hochkonzentriert in der Monstranz, einem liturgischen Schaugefäß. Und demonstrieren in der Bedeutung von etwas kundgeben oder etwas beweisen (quod erat demonstrandum) bezieht sich auf Öffentlichkeit und Veröffentlichung.

 

Damit teilt Kathrin Kösters aktuelle Version vom Demonstrieren etwas mit jenen Übersetzungsprozessen, die eine gewisse jüngere Malereikontextualisierung unter transitiver Malerei (1) führt, geht darin aber keineswegs auf. In transire, lat. überschreiten, hinübergehen sowie, ganz wichtig, verwandeln, findet sich eine räumliche mit einer zeitlichen Dimension montiert – Passagen und Passieren sind im Spiel. Diese allgemeine Feststellung raumzeitlicher Aktualisierungen hat sich im Hinblick auf Kathrin Kösters Operative der letzten ca. fünf Jahre in der Figur der Falte konkretisiert. In ihr verbinden sich Bewegung und Wissen. Die Falte stellt eine Wissensfigur wie ebenfalls eine Wissenspraxis dar: Eine Argumentation lässt sich entfalten, ein Sachverhalt wird explizit, ein anderer bleibt implizit. Unter Entfalten, Zusammenfalten, Aus-, Ein- und Entwickeln verstehen wir freilich auch materiell-manuelle Tätigkeiten, deren Erkenntniswert über das Ästhetische und die sinnliche Erfahrung generiert wird.

 

Unter dieser Prämisse interessiert mich für die folgenden Ausführungen zu Kathrin Kösters Arbeit eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen einer transitiven Malerei und Motiven, Gesten, Formen und Techniken in der Malerei, die eine Transformation durch Raum und Zeit bereits in sich tragen. Die transitive Malerei soll also aus ihrer diskursgestützten Referenzialisierung des Kunstsystems und aus dem institutionskritischen Kreisen um den Status der Malerei gelöst und die präpositionale („beside“: neben, außerhalb) Objekthaftigkeit oder Dinglichkeit der Malerei reprozessualisiert werden. Dafür geht es wesentlich um Gewänder und ihren Bezug zum menschlichen Körper; um den Charakter des Textilen; um die Raumzeitlichkeit der Falte – womit sich zudem die traditionelle Opposition von figurativer und ungegenständlicher Malerei erübrigt. Worum es mir nicht geht: Kathrin Kösters Arbeiten ikonografisch zu lesen. Vielmehr ist die Frage: welche malerischen und konzeptuellen Mittel charakterisieren eine Malerei nach ihrer Transition, nach ihrer Verwandlung durch eine ‚transitive‘ Malerei? Dabei versteht sich das „nach“ gleichermaßen temporal: auf Vorheriges folgend – wie modal: durch etwas hindurch, im Sinn von, nach dem Vorbild/ Muster von. (2)

 

So geht Kathrin Kösters derzeit jüngste Arbeit Velum, 2018, auf Bildfindungen des venezianischen Frührenaissancemalers Giovanni Bellini (um 1437–1516) zurück. (3) Seiner Zeit gemäß entwickelte er seine Version christlicher Andachtsbilder und biblischer Szenen, portraitierte aber auch kirchliche und weltliche Potentaten, visualisierte Legenden und konstruierte Allegorien. Die Ikonografien des Bildpersonals der sechs ausgewählten Werke Bellinis lässt Kathrin Köster jedoch beiseite, wenn sie die Gewänder einzelner Figuren autonomisiert und deren Faltenwürfe und Volumina zum Thema macht. Sie forciert damit jenes ‚Eigenleben‘ der Stoffe, das in der Renaissance zaghaft beginnt. Folglich stehen die Gewänder für sich: Sie benötigen keine*n Träger*in, keinen Körper, den sie abzeichnen, indem sie ihn umhüllen und der ihnen ihre Berechtigung verleiht. Denn sie sind das visuelle Resultat eines ‚Wurfs‘ – einer Dynamik, die wirbelt, kräuselt, rafft, bauscht, bindet und knotet.

 

Entgegen der Ausgangsmotive erzählen ihre textilen Oberflächen aus Tusche und Papier nun keine Andachts-, Anbetungs- oder Verherrlichungsgeschichten mehr, sondern künden von Bewegung und vom ‚Raum-Machen‘ an sich: mittels des auch im geronnenen Zustand noch nachvollziehbaren Fließens der Farbmaterie, in das das metaphorische Fließen von Stoffen und Gewändern eingefaltet ist. Wässerig im Auftrag, organisieren sich die Farben in ihren ans historische Farbspektrum angenäherten Nuancen vor unseren Augen zu gemusterten Stoffen von unterschiedlicher Textur. Der Eindruck einer visuellen Haptik wird dadurch verstärkt, dass das Tuch sich zu wölben, zu flattern oder voranzudrängen scheint. Neben dem optischen Effekt in der Malerei involviert Kathrin Köster eine physische Operation. Befestigt an einer S-Kurve im Raum, scheint die 7 m lange Bahn zu schwingen – wobei diese Raumschleife selbst etwas von einer einfachen Faltung hat. Die Materialität der Hüllen wirkt spürbar fragil; zugleich schimmert sie, als handele es sich um Brokate, Seiden oder Samt, die die Zeit physisch zwar brüchig gemacht hat, ihnen dabei aber ihren Glanz und ihre Strahlkraft nicht rauben konnte. Mit den Bellini-Figuren in Form ihrer Gewänder, als Kokons konfrontiert, teilt sich den Betrachter*innen noch in der formal radikalen Abstraktion etwas Erhabenes mit; etwas vom Sinnlich-Lebendigen und für uns Heutige Geheimnisvollen der gut 500 Jahre alten Werke geht auf sie über. Es ist, als brächte Kathrin Köster ihr Material dazu, sich zu gebärden, sich aufzuführen und eben nicht Gebärden zu repräsentieren: der personifizierten Verkündigung (Gabriel, Maria), des Martyriums (Hl. Sebastian) oder der Gelehrsamkeit (Hl. Hieronymus). So intensiviert die Künstlerin das Nachleben der Bilder der Antike in der Renaissance in einem Nachleben der Renaissance-Gewänder in einer transitiven Malerei.

 

Zumindest die deutsche Sprache kennt den Faltenfall als Bezeichnung für eine optisch locker wirkende Anordnung eines zusammengezogenen Stoffes, gleich ob sie nun als ‚natürlich‘ gilt oder als drapiert. Physikalisch gesehen folgt alles, was fällt, der Schwerkraft und wird erst vom Boden aufgefangen, in der Horizontalen. In Ninfa moderna (4) ergründet Georges Didi-Huberman Aby Warburgs Interesse an einer Kategorie von Figuren, die zwischen Renaissance und Barock nicht länger vertikal und statisch, sondern bewegt, gar dramatisch konzipiert sind und sich ‚aufführen‘: die Nymphe oder Ninfa (Ninfa fiorentina). Als unpersönliche Figuren seien diese Frauengestalten aus dem vertikalen Haltungs- und Bekleidungsprinzip herausgeschlüpft. Und wenn nicht die weiblichen Körper selbst hingesunken waren und nicht länger aufrecht standen, so hätten sich zumindest ihre Gewänder, Schleier und Tücher vom Leib gelöst (als „imaginäre Substanz des Begehrens“(5)) oder seien zerfetzt (Gewalt, Vergewaltigung) in die Horizontale geglitten. In dieser Epoche seien die Stoffe zum metonymischen Rest ihrer Trägerinnen mutiert und noch Jahrhunderte später, so Didi-Huberman in seiner kunsthistorischen Aktualisierung, in Form anonymer Lumpen zu Zeugen des Nachlebens jener Nymphen in der Moderne geworden. Lässt sich hier nicht Kathrin Kösters Ausstellung Die Falten werden durch Löcher ersetzt im Kunstverein Bochum im Haus Kemnade, 2016, anschließen? Für die performativ-installative Aktion legte die Künstlerin zwei jeweils von beiden Enden her aufgerollte Aquarellpapierrollen wie je auf zwei Ballen aufgeteilte Stoffbahnen (oder, architektonisch gesprochen, wie umgekehrte Voluten) auf den Boden, ihren teils opaken, teils transluzenten Tuscheauftrag von freien miteinander verbundenen Formen in ihr Inneres eingewickelt. Die textile Anmutung allerdings enthüllte sich erst in der Performance, als die Performer*innen die zwei 2 x 10 m messenden Papierbahnen aus- und teils wieder einrollten und mit ihnen zwischen der Waagerechten und der Senkrechten hantierten. Dann wurden die Farbschleier aufgerichtet und der Körperbezug so wiederhergestellt. Imaginär umfingen sie nun die Körper der Akteur*innen wie der Besucher*innen.

 

Gehen wir der Falte als operativem Prinzip, das materiell verfährt und sich räumlich in allen drei Dimensionen abspielt (6), weiter auf den Grund. Sie bestimmt in visuell expliziterer Form als in Velum die vier Jahre früher entstandene Raumarbeit ex plica in sepia mania, 2014. Hier ‚macht‘ die Falte das Bild, erscheint multipliziert – franz. pli, Falte – auf einem monumentalen Format von 9 x 12 m. Die Stofffläche ist fast vollständig gefüllt, und auch wenn die Falten auf der Arbeitsseite schärfer konturiert sind als auf der Rückseite, geht die Malerei doch durch und durch, so wie eine Falte niemals nur eine Seite erfassen kann, sondern als materielle Operation immer aufs Ganze geht. (7) Lediglich ein horizontaler Randstreifen bleibt unbearbeitet. Die Stoffbahn nach unten abschließend wie ein Saum ein Kleidungsstück, verbindet der weiße Streifen das frei in einer Kurve von der hohen Decke hängende Gewand optisch mit der Wand und ‚erhebt‘ so die Falten, bringt sie zum Schweben und intensiviert sie dabei. Von Gewand und nicht von einem Vorhang oder einer Draperie zu sprechen scheint vielleicht befremdlich, gilt begrifflich aber der architektonischen Bezogenheit des ungegenständlichen Bildes (8). Durch manuelles Falten und Färben in der Art von Tagwerken (9) realisiert, zeigt das Bild Falten. Sie erscheinen als Trompe-l’oeil einer visuellen Form, die nicht malerisch simuliert, sondern ‚als sie selbst‘ manuell prozessiert wurde. Konkreter: Zunächst transformieren Faltungen eine Fläche in ein dreidimensionales Gebilde. Die Sepia-Tusche durchtränkt den Stoff dann unterschiedlich stark, dunkler an der Oberfläche, heller, je tiefer die Faltschicht liegt, wobei sich die Kniffe klar abzeichnen. Beim späteren Auseinanderfalten sehen wir eben jenen illusionistischen Knittereffekt, der eine Falte auf der Stofffläche gleichsam als ins Unendliche vervielfältigt erscheinen lässt. Diese Produktionsweise ist in der Falte angelegt, begreifen wir Falten doch als gleichermaßen extensiven wie intensiven Prozess, der niemals bei sich stehen bleibt, sondern immer zu weiterem Ent/Falten führt. Und wie groß erst wäre das Tuch, glättete man all die virtuellen Falten?

 

Solches Denken zielt nicht auf Lösungen, sondern dreht sich um Fortbewegung, um fortgesetzte Entfaltung – in Kathrin Kösters Praxis geht das Entfalten so weit, dass Die Falten werden durch Löcher ersetzt, 2016, als das „Entfalten einer Ausstellung“ konzipiert war. Und eine weitere Bemerkung zu dieser Arbeit, die sich auch in meinem Text entfaltet und dafür von Falte zu Falte neue Inhärenzen zeigt, hier zu ihrem Titel: Die Falten werden durch Löcher ersetzt. Dieser, so die Künstlerin, sei zunächst einer verkehrten Notiz eines Deleuze-Zitats geschuldet – in seinem Barock-Buch heißt es nämlich genau andersherum: „Die Löcher werden durch Falten ersetzt.“ (10) Und Deleuze weiter: „Dem System Fenster – Landschaft wird das Paar Stadt – Informationstafel entgegengesetzt.“(11) Bemerkenswert ist jedoch nicht die Fehlleistung als solche, sondern die, vielleicht eher unbewusst motivierte, Entscheidung, die irrtümliche Formulierung beizubehalten. Meine Spekulation über die potenzielle Bedeutung der umgekehrten Ersetzung (Falten durch Löcher) muss hier kurz ausfallen. Könnte es nicht sein, dass Kathrin Köster mit der Artikulation der Dominanz der Löcher gegenüber den Falten den Körper in Deleuzes Architekturbezug präsenter machen möchte? Ihre Ausgangskonstellation ist nicht die urbane von „Stadt – Informationstafel“ contra „Fenster – Landschaft“, sondern diejenige von Körper und Kleid, je in Bewegung. Jenseits dessen bleiben Falte und Loch auch im falsch Zitierten die zentralen Phänomene. Fast ist es, als stärke der Widerspruch, den die zwei konträren Paradigmenwechsel produzieren – Falte gegen Loch, Loch gegen Falte –, beider Relationalität.

Historisch-technisch gesehen haben Falte und Loch tatsächlich eine Menge miteinander zu tun. Geht man die Falte und das Falten nicht generalistisch an – so, als seien sie „überall am Werk“(12) –, sondern medientechnologisch, dann zeigt sich schnell ein Zusammenhang: derjenige zwischen Falte, Gewebe und Code. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Das Gewebe lässt sich mit Kette und Schuss als eine Materialisierung der digitalen Null-Eins-Logik verstehen; es trägt Züge des Alphanumerischen, von Rechen- und Schreiboperationen, welche sich an Linien, Zeilen oder Spalten gebunden darstellen. Die Mechanisierung des Webens verlief bekanntermaßen über den Datenträger Lochkarte (13), in der in binärer Logik von Loch – Nicht-Loch Muster gespeichert waren. Grafisch betrachtet, stellen die einzelnen Leerpunkte sogenannte diskrete, also isolierte, unverbundene Elemente dar, die gleichwohl einen kontinuierlichen Prozess, eine Mechanik steuern. Ihre Programmierung ermöglichte eine imaginär unendliche Wiederholung desselben Musters: „Weben selbst ist eine Synthese diskreter Elemente – von den Perforationen in der Lochkarte bis zu den Knickpunkten des Fadens während des Webens – und kontinuierlicher Bewegung – die Bewegung, die der Webstuhl macht“ (14), schreiben der Mathematiker und Philosoph Michael Friedman und der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schäffner in On Folding. Die Falte vereinigt das Analoge wie das Digitale in sich. Sie ist räumlich und grundsätzlich lokal zu verstehen und die materielle Voraussetzung für eine symbolische Operation. Kathrin Köster lässt Faltungen ästhetisch in bestimmten Räumen erfahrbar werden, und wenn Friedman/Schäffner das Lokale (15) der Falte hervorkehren, so finden wir dieses in den künstlerischen Arbeiten zweifach wieder: in der Bindung an konkrete Ausstellungsorte und in der Reflexion auf historische Gemälde, die ihrerseits neben dem Zeitbezug immer auch einen Ortsbezug haben: Bellini zum Beispiel ist ein Vertreter der venezianischen Frührenaissance (und nicht der florentinischen oder sienesischen).

 

Kathrin Kösters malerische und performative Operationen mit Faltungen und Draperien sind keine Illustrationen des theoretischen Modells Falte. Sie können jedoch als singulärer Ausdruck eben des operativen Prinzips Falte gelten. So mag es ein weiteres Detail geben, das eine Schnittmenge zwischen interdisziplinärer Forschung qua Falte und eigenständiger Visualität bildet: Die Künstlerin arbeitet mit farbigen und Sepia-Tuschen. Tuschen, schwarze Farbe auftragen, wurde im 17. Jahrhundert von franz. toucher, berühren, abgeleitet. Dieses wichtige Detail der künstlerischen Materialisierung (16) lässt, einmal mehr dem Wortsinn nach, das Haptische und physisch Berührende von Stoffen, Gewändern, Hüllen assoziieren. Zugleich aber denken wir bei Tusche bzw. Tinte an Textverarbeitung oder Schrift und Schreiben, an Techniken, die wir an das Medium Buch knüpfen. Aus dieser techno-medialen Beobachtung von Schriftlichkeit als Speicher heraus lässt sich ein weiterer Aspekt der Falte und des Faltens entwickeln. Er wird manifest, wenn Kathrin Köster eine ihrer Arbeiten um ein Booklet erweitert – so geschehen bei ex plica in sepia mania, 2014. Es stellt dann ein eigenständiges Format dar, das nicht etwa kunstkritische Texte versammelt, sondern Faltungen zwischen Ornament (17) und Raum zeigt. Unter dem Titel When a boat reaches a certain speed a wave becomes as hard as a wall of marble, einem Deleuze-Zitat, versammelt das Heft durch Faltungen und Einschnitte erzeugte ornamentale und durch eine Schablone gesprayte Strukturen (einer Wand des Ausstellungsraums wurde zudem ein diskretes Tattoo durch eine der Schablonen appliziert). Doch warum erscheint mir das Ausstellungselement Booklet im Kontext ‚Falte‘ plausibel? Historisch gesehen ist das Buch das Resultat einer räumlichen Neuorganisation des alphanumerischen Kodes. Um einen Text auf einem Papyrusblatt zu lesen, musste dieses manuell entrollt und all die kleinen Knitterfalten und Runzeln im Material mussten geglättet werden; nur so konnten Text und Bild aus ihrem Mikrofalten-Speicher in die Les- und Sichtbarkeit gelangen. (Erinnern wir uns hier der Bildrollen und ihres widerspenstigen und keineswegs mühelosen Aus- und Einwickelns bei Die Falten werden durch Löcher ersetzt.) Die räumliche Zeichenanordnung auf einer Schriftrolle änderte sich in der Spätantike mit den Kodizes, die aus Lagen gefalteter Pergamente und mit dem 13. Jahrhundert dann aus gefalteten Papierbögen bestanden; sequentielles Blättern von Seiten ersetzte nunmehr kontinuierliches Scrollen (engl. scroll, Schriftrolle). Solche Akte und Überlegungen mögen sich in Kathrin Kösters transitiver Malerei finden: als Tat der Falte.

 

Im Denken der Falte sind Kathrin Kösters Farbhüllen, Farbschleier oder Farbkokons kein bloßes Außen, denn das Außen selbst ist keine erstarrte Grenze, sondern eine bewegliche Materie, belebt von rhythmischen Kontraktionen und Ausdehnungen, von Falten und Faltungen, die einem Innen zugesprochen werden. Doch ist dieses Innen nicht etwas – qualitativ, logisch, noch nicht einmal materiell – anderes als das Außen, sondern genau das Innen des Außen. Wie Deleuze es formulierte: „Man kann sagen, dass das, was gefaltet ist, allein virtuell ist, und aktual nur in einer Hülle existiert, in etwas, das es umhüllt.“ (18)

 

 

1 „Transitive Malerei“ ist ein kunstkritischer Terminus, der seit seiner Setzung durch den US-amerikanischen Kunsthistoriker David Joselit vor knapp 10 Jahren für all jene Kunst beansprucht wird, die das Medium Malerei involviert, dabei jedoch seine Systemaspekte ins Zentrum stellt: die sozialen Kommunikationsformen, den Handel, allgemein die ökonomischen Konditionen, ideologischen Setzungen und kunstkritischen Diskurskategorien sowie ihrer aller Vernetzung. Dies geschieht sowohl innerhalb als auch außerhalb des Bildes/Gemäldes in Verbindung mit unterschiedlichen anderen künstlerischen Ausdrucksformen. David Joselit, „Painting Beside Itself“, in: OCTOBER 130, Herbst 2009, S. 125 – 134. Das kunstkritische Modell wurde von Barbara Buchmaier als ein Zugang zu Kathrin Kösters künstlerischen Verfahren vorgeschlagen: Vgl. Barbara Buchmaier, „Über die vermeintlichen Grenzen des Bildes. Anmerkungen und Fragen zur raumbezogenen Malerei von Kathrin Köster“, in: Kathrin Köster. Platzhalter, Ausst.kat. Fast and Furious – Goldrausch 2011, S. 26 – 29.
2 Vgl. Michael Wetzel, Die Wahrheit nach der Malerei, München: Wilhelm Fink Verlag 1997, besonders S. 9 – 19.
3 Hier eine Ergänzung, da ich oben von der Monstranz spreche: Auch das Velum ist ein liturgisches Element und die lateinische Bezeichnung für den Schal, unter dem der Priester seine Hände beim rituellen Zur-Schau-Stellen der Monstranz verbirgt.
4 Georges Didi-Huberman, Ninfa moderna. Vom Fall des Faltenwurfs (2002), aus dem Franz. von Michaela Ott, Zürich – Berlin: diaphanes 2006.
5 Ebd., S. 23.
6 Eindimensional: Falten bzw. Knicken einer Faser; zweidimensional: Falten einer Fläche: Schichten, Blätter, Oberfläche; dreidimensional: Körper, die aus Schichten gleichsam gebaut sind und geometrische Faltprozesse beinhalten.
7 Vgl. zur Struktur des Gewebes: Hanne Loreck, „Gewebe und Textil als Material, Machart, Modell und Metapher“, in: Sabeth Buchmann, Rike Frank (Hgg.), Textile Theorien der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik, Berlin: b_books/PoLYpeN 2015, S. 77 – 106.
8 Ich folge hier Gottfried Sempers anthropologischer Architekturtheorie bzw. der sogenannten Bekleidungsthese, die die materielle und ästhetische Identität von Wand und Gewand aus nomadischen Wohnformen ableitet und dabei die Flexibilität des Textilen hervorhebt. In zeltartigen Bauweisen hätten Matten, Behänge und Gewebe als schützende, gliedernde Wand gedient. Derart verstandene Wände, Böden oder Decken wurden nicht mit Gobelins oder Wandteppichen ‚bekleidet‘ und dekoriert, vielmehr war ihre Machart synonym mit ihrer Funktion und Gestaltung, Vgl. Hanne Loreck, „VorWAND. Ein kunstkritisches Plädoyer für das Dekorative“, in: Bettina Allamoda (Hg.), model map. Zur Kartografie einer Architektur, Haus des Lehrers Berlin, Frankfurt am Main: Revolver Publishing, 2003, S. 110 – 117. Auf Sempers Ursprungstheorie, die Architektur leite sich aus einer textilen Matrix ab, bezieht sich auch Anni Albers in Theorie und Praxis. Die Bauhaus- Studentin und spätere Leiterin der Weberei-Werkstatt benutzt in ihren Entwürfen immer einen Null-Eins-Code: ‚leere‘, also Null-Flächen, wechseln sich rhythmisch ab mit gefüllten, also Eins-Flächen.
9 Mit dem Fachterminus Tagwerk spiele ich auf die Freskomalerei an, in der Tag für Tag ein Stück Putz auf die Wand aufgebracht und, solange er feucht war, frisch/ fresco bemalt wurde. Auch in dieser Bezeichnung für einen Arbeitsgang eines Malers zeigt sich das Zusammenfallen von Bildproduktion, Wand bzw. Architektur und einer Zeiteinheit.
10 Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock (1988), aus dem Franz. von Ulrich Johannes Schneider, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, 2. Auflage, S. 49.
11 Ebd.
12 Michael Friedman, Wolfgang Schäffner, „On Folding: Introduction of a New Field of Interdisciplinary Research“, in: dies. (Hg.), On Folding. Towards a New Field of Interdisciplinary Research, Bielefeld: transcript 2016, S. 7 – 29, 7; Übers. HL. Die Autoren zitieren hier Gilles Deleuze, Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie (1972, dt. 1977) aus dem Zusammenhang gerissen, denn dort geht es um das ES und die Maschine.
13 Vgl. auch Birgit Schneider, Textiles Prozessieren. Eine Mediengeschichte der Lochkartenweberei, Zürich-Berlin: diaphanes 2007.
14 Michael Friedman, Wolfgang Schäffner, On Folding, S. 24; Übers. HL.
15 Als Nicht-Künstler und Nicht-Kunsttheoretiker sprechen die Autoren hier vom Lokalen. Ich halte diese Zuschreibung für synonym mit dem ‚Ortsspezifischen‘ der expliziter kunstbezogenen Debatte, gepaart mit Donna Haraways „situiertem Wissen“.
16 Allen Anzeichen nach legt die Künstlerin großen Wert auf die Materialien, deren Qualitäten, z.B. was Papier betrifft, bis in die Grammatur hinein angegeben wird – Indiz dafür, dass Materialien mit ihren Eigenschaften als Akteure gelten, deren ‚Verhalten‘ (steif, widerspenstig, entgleitend u.v.m) die Demonstration mitbestimmt.
17 Wir sind hier weder näher auf den Bezug zwischen Falte und Ornament eingegangen, noch auf die Figur des Ornaments als spezifische Wiederholungsstruktur, auch wenn diese immer wieder in Kathrin Kösters Arbeiten vorkommt, vor allem in ex plica in sepia mania, 2014;Be.Tex.Revolution, 2016; Subvers, 2017.
18 Gilles Deleuze, Die Falte, S. 41.
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